von Steffen Meltzer
Ein Amoklauf in Graz reißt zehn Menschen aus dem Leben. Noch ist der Schock tief, doch schon nach wenigen Tagen verblassen die Gefühle, und der Alltag übernimmt wieder – begleitet von den immer gleichen 0815-Betroffenheitsbekundungen und den geforderten Waffenverboten. Doch hilft das wirklich? Würde eine Verschärfung des Waffengesetzes solche Tragödien verhindern?
Wie so oft taucht das Gerücht auf, der Täter sei gemobbt worden. Doch die Reaktion folgt dem bekannten Muster: Mobbing? Nein, das gibt es nicht – auch nicht hier. Zum „Glück“ hinterlassen Amoktäter oft Abschiedsbriefe oder filmen ihre grausamen Taten live im Internet.
Mit der Zeit verblasst der Vorfall in der Flut der Nachrichten, die mal hochgespielt, mal heruntergespielt werden. Welche Schlagzeile dominiert heute? Hauptsache Haltung und Auflage – echte Informationen bleiben auf der Strecke, wenn sie nicht ins vorgefertigte Schema passen.
Wie es sein kann: Mit welchen Täterpersönlichkeiten können wir es zu tun haben?
Der fiktive Amokläufer, nennen wir ihn Severin, wurde 2008 geboren. Zwei Jahre und sechs Monate später kam seine kleine Schwester zur Welt. In der Familie waren die Sympathien klar verteilt: Er, der große Bruder, gefangen in einer vorurteilsbehafteten „toxischen Männlichkeit“, sie, die kleine, stets zu beschützende Prinzessin. Beide Eltern arbeiteten – die Mutter als Verkäuferin, der Vater als Beamter im mittleren Dienst.
Die Mutter war mit Job, Erziehung und Haushalt überfordert, oft am Rande des Nervenzusammenbruchs. Der Vater zog sich in seine Arbeit zurück und erwartete zu Hause die volle Fürsorge seiner Frau. Zwischen den Eltern herrschte oft eisiges Schweigen oder lauter Streit, das Geld war knapp, die Mutter fühlte sich unverstanden und ungeliebt, der Vater wirkte kalt und distanziert.
Oft verlor die Mutter die Kontrolle und schlug Severin bei jeder Gelegenheit, um ihren Frust abzubauen – ohne dass er verstand, was er falsch gemacht hätte. Auch seine kleine Schwester sah ihn bald als das, was er ist: das schwarze Schaf der Familie.
Severin wuchs ohne das sichere Fundament des Urvertrauens in sich selbst und die anderen auf. Freundschaften zu schließen, fiel ihm aufgrund seiner Schüchternheit schwer. Um irgendwie zu überleben, lernte er, seine innere Einsamkeit und Verlorenheit zu ertragen und sich übermäßig anzupassen.
In der Schule zog sich der Junge still und in sich gekehrt immer mehr zurück. Gegen die Angriffe seiner Mitschüler war er physisch und psychisch machtlos und wurde schnell zum Außenseiter und Prügelknaben – von Lehrern und Schülern gleichermaßen. Morgens quälten ihn auf dem Weg zur Schule Magenschmerzen, und das Pausenklingeln war sein einziger Lichtblick. Nach Hause zu kommen, war für ihn ein kleiner Sieg über die Qual des Tages. Doch auch dort fühlte er sich nur sicher, wenn seine neurotisch erschöpfte Mutter nicht anwesend war. Gab es wieder aus nichtigen Gründen Schläge, während der Vater tatenlos zusah?
Severin suchte Zuflucht im Internet. Dort baute er sich eine eigene Welt auf, entdeckte sein Talent fürs Programmieren und tauchte immer tiefer in die dunkle, verbotene Welt des Darknets ein. Hier gibt es keine Gesetze, keine Kontrolle – Zugang zu allem: Drogen, Waffen, Bomben u. v. m.
Der Einzelgänger ist inzwischen 16 Jahre alt. Sein sozialer Rückzug ist komplett. Er hat zusätzlich das Pech, auch nach seiner Pubertät keine typisch männlichen Züge ausgeprägt zu haben. Blass und schmächtig wirkt er mit seinem Babyface. Bei all den Mädchen in seiner Klasse hat er damit keine Chance. Eine Freundin? Noch nie gehabt. Die Sehnsucht danach und der Gefühlsstau nehmen zu. Er träumt davon, ein richtiger Kerl zu sein und es allen zu zeigen. Doch stattdessen zieht ihn eine dunkle Faszination in den Bann: Videos aus dem Darknet, in denen Menschen vor der Kamera live und in Farbe brutal sterben. Waffen werden sein neues Interesse, sein gefährlicher Begleiter. Das kalte Eisen – sein einziger Freund.
Er verlässt die Schule – voller Wut und Frust auf Mitschüler und Lehrer. Niemand erkennt seine Not. Seine stummen Signale an seine Umwelt bleiben unbemerkt und deshalb unbeantwortet. Das Leben erscheint ihm zunehmend unsicher und gefährlich. Severin – das gescholtene Opfer, zuhause wie in der Schule.
Er beginnt eine Lehre als Elektriker. Auch im Betrieb ist er ein Außenseiter. Die ersten Depressionen melden sich, das Aufstehen fällt schwer. Ein halbes Jahr hält er durch, dann bricht er ab. Der Gefühlsstau wächst weiter. Depressionen sind oft unterdrückte Emotionen und Aggressionen, die sich anstauen.
Die Eltern sind inzwischen geschieden. Seine Schwester glänzt als gute Schülerin, geht aufs Gymnasium, tanzt und nimmt Musikunterricht. Sie wird ihm ständig als Vorbild vorgehalten. Die Botschaft: „Severin, du bist ein Versager.“
Der Ausweg aus der Misere ist das Finale:
Langsam reift der Plan in ihm, es allen heimzuzahlen. Waffen organisieren? Im Darknet kein Problem! Eine SIG Sauer P228 mit 100 Schuss Munition wird für wenig Geld beschafft.
Severin ist jetzt 18. Aufgewachsen mit dem Gefühl, überflüssig und störend zu sein, beschließt er Rache. So viele wie möglich sollen sterben – Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Der Plan ist durchdacht. Er weiß, wie er in die Schule kommt. In der Pause mischt er sich unter die Schüler. Mit seinen 18 Jahren fällt er kaum auf, wirkt doch noch wie ein 15-jähriger Teenager.
Auf der Toilette legt er überflüssige Sachen ab. Unter der Jacke versteckt er die Waffe und Munition. Wild entschlossen will er Geschichte schreiben: „Seht her, ich bin ein richtiger Kerl! Ein Held im eigenen Film. Ich habe das Recht auf Rache für all die Erniedrigungen!“ Der über die vielen Jahre angesammelte Gefühlsstau entlädt sich mörderisch und explosionsartig. Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol schießen durch seinen Körper. Hellwach, hochkonzentriert, kämpferisch und zielstrebig: töten, töten, töten! Severin verlässt die Toilette. Sein erstes Opfer ist eine Lehrerin, die ihm zufällig begegnet, die Pausenaufsicht. Ein Projektil trifft ihre Herzkammer, sie ist sofort tot. Der Amokschütze setzt sein Werk fort.
Nachdem Severin innerhalb von zehn Minuten mehrere Lehrer und Schüler getötet und weitere verletzt hat, hört er die Schritte der eintreffenden Polizeibeamten. Der Schütze fühlt: Das waren diese kurze Lebensspanne, die sein Dasein endlich lebenswert gemacht haben. Severin, der uneingeschränkte Herrscher über Leben und Tod. Er kehrt zur Toilette zurück, zieht seine schwarze Jacke an, hält die Pistole an die Schläfe und drückt ab.
Die Karawane zieht weiter.
Ein weiterer Amoklauf in Deutschland erschüttert die Gesellschaft. Blumen und Kerzen werden niedergelegt, Politiker fordern Waffenverbotszonen und drastische Gesetzesverschärfungen. Doch bereits nach wenigen Wochen verliert das Thema an Aufmerksamkeit.
Deutschland hat zu wenige Lehrer und Schulpsychologen. Laut aktuellen Berichten sind viele Lehrkräfte körperlichen und verbalen Angriffen durch Schüler und Eltern ausgesetzt. Es gibt Klassen, in denen kaum noch einer der Schüler Deutsch spricht. Schlägereien, Erniedrigungen und Mobbing sind an der Tagesordnung. Es kann jeden treffen, die Gründe sind sehr vielfältig. Das Bildungssystem steht unter erheblichem Druck und wird für viele zur Herausforderung. Die Schule als sicherer Ort – das war einmal.
Viele dieser Lehranstalten sind heruntergewirtschaftet, die Bausubstanz ein Skandal. Lehrer sind erschöpft, der Krankenstand exorbitant. Es findet tagtäglich ein Überlebenskampf für die Pauker und nicht wenige Schüler statt. Sie erhalten zunehmend bindungsunfähige und entwurzelte Kinder, die nicht mehr gelernt haben, ihre Impulse zu steuern. Wer den viel zu hohen Migrantenanteil in den Klassen anspricht, läuft Gefahr, als Ausländerfeind abgestempelt zu werden.
Schulleiter, die Probleme offen ansprechen, bekommen einen Maulkorb und werden mit Disziplinarmaßnahmen bedroht – zum Beispiel in Berlin.
Die Geschichte dieses Amoktäters ist erfunden, die dargestellten Probleme jedoch real. Severin ist jedoch kein Einzelfall, was seine lange Leidensgeschichte inklusive seiner daraus entstandenen Erkrankungen betrifft. Viele Schüler durchleben Ähnliches, werden jedoch keine Kriminellen, geschweige denn Amoktäter. Ein kleiner Teil greift zur Waffe. Die Politik reagiert wie immer mit Aktionismus und Hilflosigkeit. Nichts ändert sich zum Guten. Ohne eine ehrliche Diskussion, gezielte Maßnahmen und Ressourcen wird das beschriebene Risiko weiterer Amokläufe bestehen bleiben.
Steffen Meltzer ist Buchautor von „Ratgeber Gefahrenabwehr: So schützen Sie sich vor Kriminalität – Ein Polizeitrainer klärt auf“ und „Mobbing! Ursachen, Schutz und Abhilfe“
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