Gastautor: Olli Nölken
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Das Präventionsparadoxon (und noch einige andere paradoxe Dinge)
Nein, in Deutschland hat sich nichts von dem bewahrheitet, womit man uns vor zwei Monaten Angst eingejagt hat. Keine zigtausenden Corona-Toten, keine Knappheit an Intensivbetten, keine Ärzte, die entscheiden müssen, wer beatmet wird und wer nicht. Die Infektionszahlen haben sich nicht einmal in der Nähe irgendeiner der Kurven bewegt, die schlaue Leute mit irgendwelchen Computerprogrammen erstellt hatten.
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Da zeige sich, so müssen wir uns von Politikern und den angeschlossenen Medienanstalten, ihrer treuen Fangemeinde in den sozialen Medien und dem unvermeidlichen Professor Drosten belehren lassen, das sogenannte Präventionsparadoxon. Das hört sich ungemein gebildet an, und es dient der Immunisierung. Nicht etwa der Immunisierung gegen eine Krankheit (oder gar gegen „die“ Krankheit), sondern der Immunisierung gegen Kritik an den ganzen Maßnahmen, mit denen das öffentliche Leben lahmgelegt, die Freiheit der Bürger eingeschränkt und Wirtschaft und Bildungssystem verkrüppelt wurden.
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Aussagen soll es: Die Schäden, die nicht eingetreten sind, die sieht man natürlich nicht. Aber sie sind halt nur deshalb nicht eingetreten, weil unsere Staatsführung in ihrer Weisheit uns beizeiten weggeschlossen hat.
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Das Problem ist bloß, dass dieses Präventionsparadoxon nach seinem äußeren Erscheinungsbild nicht von einem Fehlalarm zu unterscheiden ist. Wenn es keine belastbaren Fakten gibt, um es zu belegen, dann ist es eine reine Glaubensfrage, ob man der offiziellen Erzählung zuneigt oder ob man der Auffassung folgt, dass wir gerade, wie der österreichische Publizist Gerald Grosz es formuliert hat, „das größte Hornberger Schießen der Weltgeschichte“ erleben.
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Das Präventionsparadoxon gibt es wirklich, und ich habe es auch schon oft bei der Arbeit erleben können, insbesondere im richterlichen Eildienst: Nehmen wir an, ein psychisch gestörter Mensch hört Stimmen, die ihm die ulkigsten Dinge erzählen, und dann geht er los und legt allerlei selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten an den Tag. Wenn es gut läuft, wird er von der Polizei eingesammelt und in die Psychiatrie gesteckt. Dort bekommt er ein paar leckere Pillen, und er tickt den Umständen entsprechend wieder normal. Nach ein paar Tagen wird er entlassen, und ihm wird eingeschärft, weiter die leckeren Pillen zu nehmen. Das tut er auch, bis er sich nach ein paar Wochen denkt, dass es ihm doch so gut geht, dass er die gar nicht braucht. Er setzt sie ab, hört wieder Stimmen, und das Ganze geht von vorn los.
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Würde man einem psychisch Gesunden genau dieselben Pillen verabreichen, dann würde er, darauf möchte ich wetten, ebenfalls keine Stimmen hören und kein fremd- oder selbstgefährdendes Verhalten an den Tag legen. Wollte er die Pillen wieder absetzen, etwa weil ihm die Nebenwirkungen nicht bekommen, und gäbe es einen Professor Drosten der Psychiatrie, dann würde der entsetzt darauf verweisen, dass derlei Lockerungen bei anderen Patienten zu schweren Rückfällen geführt haben. Das wäre unbezweifelbar richtig, und es wäre unbezweifelbar irrelevant.
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Was also haben wir in Deutschland erlebt, gelungene Prävention oder Fehlalarm? Oder ein bisschen was von beidem und, wenn ja, wieviel? Ich behaupte selbstverständlich nicht, dass ich diese Frage abschließend beantworten könnte. Ich zähle jedoch mal ein paar Beobachtungen und Fakten aus verschiedenen Ländern auf, die ein bisschen quer zu der offiziellen Erzählung liegen und die ich nicht recht mit den jeweils getroffenen Maßnahmen kausal in Verbindung bringen kann. Wie immer stammen die Grundlagen aus offiziellen Quellen und sind unschwer zu überprüfen. Ich bin gespannt darauf, ob irgendwann mal Wissenschaftler dazu forschen, Journalisten recherchieren und Politiker Erklärungen liefern. Bis dahin kann ich leider nur damit dienen, welchen Reim ich mir darauf mache.
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Legt man die getroffenen Maßnahmen und das Infektionsgeschehen zeitlich übereinander, dann könnte man den Eindruck gewinnen, das Virus passe sich einfach der Landessitte an und reagiere auf hoheitliche Maßnahmen bspw. in Deutschland mit vorauseilendem Gehorsam, in Italien mit einem gewissen Schlendrian und in Südafrika maximal unbeeindruckt.
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In Deutschland datiert das Robert-Koch-Institut (nachzulesen in jedem Tagesbericht, in dem gestrigen z.B. auf Seite 7) den Höhepunkt der täglichen Neuerkrankungen auf den 19.03., sodass, ausgehend von der bekannten Inkubationszeit, der Höhepunkt der Neuansteckungen +/- 1 Woche vorher (also um den 12.03.) gewesen sein wird. Zu dem Zeitpunkt waren lediglich größere Veranstaltungen verboten. Die Schulen schlossen erst am 16.03., und die Ausgangssperren bzw. Kontaktbeschränkungen traten am 23.03. in Kraft. Ebenfalls auf der Homepage des Robert-Koch-Instituts nachlesen kann man, dass die zauberhafte Reproduktionszahl R schon am 22.03. den Wert von 1 unterschritten hatte und seitdem nur an wenigen einzelnen Tagen darüber lag.
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In Italien erinnere ich mich dagegen noch gut daran, mit welcher Frustration bis weit in den April hinein zu beobachten war, dass die Zahl der Neuinfektionen, Intensivpatienten und Toten kaum zurückging oder sogar noch anstieg, obwohl die ersten Hotspots bereits Ende Februar abgeriegelt worden waren, am 08.03. dann die ganze Lombardei, und ab dem 10.03. im ganzen Land eine Ausgangssperre galt, die in den folgenden Tagen noch weiter drastisch verschärft wurde. Die vom Gesundheitsministerium veröffentlichten Zahlen waren noch verdammt lange verdammt hoch, und italienische Politiker klagten, sie wüssten einfach nicht, was sie noch tun könnten, um das Geschehen einzudämmen. Irgendwann fielen die Zahlen dann doch, erst langsam, dann deutlich und nachhaltig. Auch heute sind die täglichen Neuinfektionen aber im Schnitt noch deutlich höher als in Deutschland.
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Südafrika hat sehr am Beginn des Infektionsgeschehens eine Ausgangssperre verhängt, eine besonders drastische mit besonders bizarren Regelungen. So ist z.B. der Verkauf von Alkohol und Zigaretten verboten. Im Zuge erster Lockerungen dürfen mittlerweile T-Shirts verkauft werden, aber nur, wenn sie den Kunden ausdrücklich als Unterwäsche angeboten werden. Der Verkauf geschlossener Schuhe ist ebenfalls wieder erlaubt, der Verkauf offener Schuhe bleibt dagegen verboten. Das Virus scheint das nicht zu kümmern. Auch nach über 50 Tagen Lockdown klettern die Infektionszahlen jeden Tag im Schnitt so um die 6-7 %, wenn auch auf vergleichsweise nach wie vor niedrigem Niveau.
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Es ist jedenfalls in keinem Land der Welt das Infektionsgeschehen großflächig außer Kontrolle geraten. Dies war durchaus, aber auch lediglich in bestimmten Hotspots der Fall, z.B. in Teilen der Lombardei und des Elsass, in Madrid oder in New York. (Wobei natürlich auch hier die offizielle Lesart ist, dass liege daran, dass man rechtzeitig einen Lockdown angeordnet habe.)
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Es gibt nun aber das eine Land, das Dirk Maxeiner auf der Achse des Guten kürzlich als „die unerwünschte Vergleichsstudie“ bezeichnete, nämlich Schweden, das auf Verbote weitgehend und auf einen Lockdown vollständig verzichtet hat. Eigentlich müssten die längst abgesoffen sein, wenn das gestimmt hätte, was im März so alles geunkt wurde. Tatsächlich aber ist das Infektionsgeschehen in Schweden im Vergleich zu anderen Ländern auffällig unauffällig. Es stimmt zwar, was unsere Staats- und Leitmedien nicht vergessen zu erwähnen, dass Schweden im Verhältnis zur Bevölkerung mehr Tote zu beklagen hat, als bspw. Deutschland, Österreich oder Dänemark. Aber es stimmt eben auch, dass es weit weniger sind als in Lockdown-Ländern wie Italien, Frankreich, Spanien oder erst recht in Belgien, dem am schwersten von der Pandemie betroffenen Flächenstaat Europas.
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In Schweden wird nicht viel getestet, und auch die Meldung der Todesfälle funktioniert behäbig, wobei das Meldungsdatum teilweise deutlich vom Sterbedatum abweicht. Eine Zahl bekommt man aber tagesaktuell, nämlich die Zahl der Covid-19-Patienten auf den schwedischen Intensivstationen. Ein recht zuverlässiger Indikator über das Erkrankungsgeschehen ca. 11 Tage früher, denn so lange dauert es nach den Angaben des dortigen Intensivstationenregisters durchschnittlich von den ersten Erkrankungssymptomen bis zur Aufnahme auf die Intensivstation. In Schweden also wurde das Maximum von 558 Intensivpatienten am 25. und 26.04. erreicht, danach sanken die Zahlen, erst langsam, dann kräftig und nachhaltig auf einen aktuellen Stand von 371. Ohne dass in der Zwischenzeit irgendwas verschärft worden wäre. Einfach so. Nach der Flut kommt die Ebbe, wer hätte das gedacht?

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Was also mache ich mir für einen Reim darauf? Ich finde ja, man hätte sich beizeiten mal mit dem beschäftigen können, was wir aus der Weltgeschichte über Infektionskrankheiten wissen. Im März hat man uns halt furchterregende Kurven und Voraussagen gezeigt, denen ich damals schon misstraut habe. Inzwischen bin ich mir sicher, dass jeder Kirmeswahrsager diese Prognosen besser hinbekommen hätte.
Es war nicht nur die allgemeine Lebenserfahrung, dass praktisch kein reales Geschehen sich entlang irgendwelcher computergenerierter Kurven entwickelt, oder das ungläubige Staunen, als unsere Bundeskanzlerin in einer etwas wirren Pressekonferenz offenbar ernsthaft angenommen hat, diese R-Zahl, die bekanntlich jeden Tag munter hin und her hüpft, werde bis Oktober konstant auf irgendeinem Wert bleiben. Nein, mein Misstrauen lag darin begründet, dass diese ganzen Modellrechnungen offenbar davon ausgehen, dass dieses Virus quasi auf einen Schlag, in einer Welle, die ganze Bevölkerung (oder zumindest den Großteil von ihr, bis zum Erreichen der Herdenimmunität) befallen werde.
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Kann sich irgendwer an irgendeine Infektionskrankheit im Lauf der Weltgeschichte erinnern, die das jemals getan hätte? In der Liste von Epidemien und Pandemien auf Wikipedia habe ich keine gefunden, und diese Liste reicht zurück bis zu einer rätselhaften Seuche in der Regierungszeit von Pharao Amenophis III. vor ca. 3.400 Jahren.
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Infektionskrankheiten pflegen in Ausbrüchen und/oder Wellen zu verlaufen. Sie brechen irgendwo aus, mal stärker, mal schwächer, manchmal breiten sie sich in der Region aus oder ziehen um die Welt (dann nennt man das eine Pandemie), und irgendwann kommen sie wieder zum Erliegen. Wenn es gut läuft, sieht man sie danach nie wieder, ansonsten kommen vielleicht irgendwann weitere Wellen, die aber ebenfalls alle dem Schema von Ausbruch plus Ausbreitung folgen.
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Wen ich im Verdacht habe, seine Hand dabei ganz maßgeblich im Spiel zu haben? Den Zufall.
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Warum hat Covid-19 so furchtbar in der Lombardei gewütet und nicht in Neapel, warum in New York und nicht in Chicago? Warum bricht Ebola in dem einen Dorf im Kongo aus, aber nicht in dem anderen? Warum dauert der Ausbruch in dem kongolesischen Dorf ein paar Wochen, und es sterben 20 Leute, und ein paar Jahre später bricht dieselbe Krankheit in Westafrika aus, wütet in mehreren Ländern über 1 ½ Jahre und rafft 11.000 Menschen dahin? Es mag einzelne Erklärungsversuche geben, aber ich glaube, der wichtigste Faktor ist tatsächlich der Zufall. Oder eben irgendein Grund, den wir nicht kennen und deshalb als zufällig wahrnehmen.
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In Schweden hat sich das Infektionsgeschehen völlig anders entwickelt als in der Lombardei. In Deutschland ganz offenbar auch; es erreichte seinen Höhepunkt, noch bevor der Lockdown überhaupt in Kraft trat. Wir hätten also wohl auch ohne ihn keine „italienischen Verhältnisse“ in unseren Krankenhäusern gehabt, selbst unabhängig davon, dass wir über ein Vielfaches der dortigen Kranken- und Intensivbetten verfügen.
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Neben dem Faktor Zufall könnte der Faktor Zeit erklären, warum das Infektionsgeschehen in einzelnen Hotspots so überkochen konnte. Inzwischen gilt ja als gesichert, dass das neuartige Coronavirus nicht etwa Chinas Geschenk zum neuen Jahr war, sondern dass es auch in Europa schon Ende 2019 (gesichert z.B. in Frankreich) im Umlauf war. Nach einer Untersuchung von van Dorp u.a. könnte der früheste Beginn der Epidemie schon Anfang Oktober 2019 gewesen sein.
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Wenn so ein Virus Zeit und Gelegenheit hat, dann kann es sich breitmachen. Zur Erkältungssaison 2019/20 ist also in bestimmten Gegenden der Welt ein neuer Erreger unterwegs, der in den meisten Fällen eine Erkältung auslöst oder sogar gar keine Krankheitssymptome. Keinem kommt das ungewöhnlich vor, keiner kennt den Erreger (bzw. zu einem späteren Zeitpunkt vermutet ihn jeder gut behütet irgendwo in China), und darum weiß auch keiner, dass er besser danach suchen sollte. Und ein paar Monate später hat die Infektion dann in einigen Regionen einen Grad der Ausbreitung erreicht, dass das Geschehen „überkocht“, während es in anderen Regionen wieder abklingt.
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Das würde m.E. auch erklären, warum es z.B. in Norditalien so verdammt schwierig war, das Infektionsgeschehen wieder in den Griff zu bekommen. Wenn eine Vielzahl an Infektionsketten über lange Zeit unkontrolliert durchs Land zieht, dann weiß man ja gar nicht, wo man mit dem Suchen anfangen soll. Man kann versuchen, das irgendwie einzudämmen, aber im Wesentlichen muss man darauf warten, dass es irgendwann von selber totläuft (was es vermutlich auch irgendwann tut, s.o.).
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Wir reden hier ja von Infektionszahlen, die nicht einmal in der Nähe der Zahl der gemeldeten Fälle liegen. Nach der Heinsberg-Studie war die Zahl der insgesamt jemals Infizierten in Deutschland (natürlich mit einer gewissen Schwankungsbreite nach unten oder oben) zum damaligen Zeitpunkt bereits auf ca. 1,8 Millionen zu schätzen. Repräsentative Antikörpertests in Spanien und Frankreich kamen dort zu einer Zahl von ca. 2,3 Mio. bzw. 2,8 Mio. Infizierten. Im Bundesstaat New York hatten geschätzte 12-13 % der Bevölkerung bereits Antikörper, in besonders betroffenen Stadtvierteln von New York City war es mehr als ein Viertel der Bevölkerung. Ich bin sehr gespannt darauf, was solche repräsentativen Antikörpertests in der Lombardei einmal ergeben werden.
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Möglicherweise werden, wenn es tatsächlich zu einer „zweiten Welle“ kommt, die jetzt besonders betroffenen Regionen ziemlich glimpflich davonkommen. Vermutlich werden wir, wie gesagt immer unter der Voraussetzung, dass es diese zweite Welle wirklich geben wird, regionale Schwerpunkte irgendwo anders auf der Welt sehen, und vermutlich werden auch die sich dann am besten mit dem Zufall erklären lassen. Einstweilen gilt für die zweite Welle also der schöne bayerische Kanon: Ob sie aber über Oberammergau oder aber über Unterammergau oder aber überhaupt nicht kommt, ist nicht gewiss.
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Ich denke, darauf hatte ich schon einmal hingewiesen, dass sich als Frühwarnsystem am besten regelmäßige verdachtsunabhängige Massentests einer repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung eignen. Die drastischen Einschränkungen des öffentlichen Lebens habe ich bereits vor 2 Monaten abgelehnt, und ich lehne ihren Fortbestand heute erst recht ab.
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Ich nehme keinem Politiker krumm, dass er vor 2 Monaten überreagiert hat. Es stand eine Gefahr im Raum, die wir alle kaum kannten und einschätzen konnten. Ich selber hätte eine Abwägung der erhofften Vorteile des Lockdowns gegen die schon damals absehbaren Kollateralschäden bevorzugt. Aber es spricht durchaus einiges dafür, den Politikern, die damals überreagiert haben, das zuzubilligen, was wir Juristen als Beurteilungsspielraum oder als „Recht auf prognostischen Irrtum“ bezeichnen: Wer in die Zukunft schaut, kann sich halt auch mal vergucken.
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Wofür ich allerdings kein Verständnis habe, sind Politiker, Wissenschaftler und Journalisten, die nicht den Arsch in der Hose haben, Manöverkritik zu betreiben oder gar Fehler einzugestehen und aus ihnen Lehren für das weitere Vorgehen zu ziehen. Die auf Kritik oder auch nur Nachfragen geradezu beleidigt reagieren. Wenn der Kaiser nackt ist, ist er nackt. Es hilft wenig, wenn die Vertreter der offiziellen Lesart sich gegenseitig versichern, dass alle anderen einfach nur sehr wenig von Mode verstehen.
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Der Autor ist Richter an einem Amtsgericht
Der Artikel erschien zuerst auf der Facebookseite von Olli Nölken