(Bild: Beispielfoto)

Autor: Alexander Freitag

Die letzten Seminar-, Vorlesungs- und Moderationseinsätze dieses Jahres stehen an: In knapp vier Wochen geht es für mich in die Winterpause. Hinter mir liegt ein Jahr bemerkenswerter Erfahrungen. Quer durch die Republik, quer durch die wahlweise aus freier oder sozial-karitativer Wirtschaft kommenden Unternehmen, quer durch die dort jeweils arbeitenden Milieus ist es überall das Gleiche: Der Niedergang von Land, Gesellschaft und Wirtschaft ist real erlebbar und nicht mehr zu überdecken.

Von der Plateau-Phase in die Abstiegsphase

Ich selbst bin mit meinen Anfang Fünfzig Teil der sogenannten Generation X. Kein Boomer mehr, aber doch noch die Aufstiegsphase des Landes, in das ich hineingeboren wurde, voll miterlebend. Die 70er als Kind, die 80er als Jugendlicher, die 90er als junger Erwachsener – das alles war Wachstum, Fortschritt. Das Land war liebenswert (“Love it!“), und überall da, wo es Verbesserungsbedarf gab, war es erfolgversprechend, Dinge oder Prozesse zu ändern („Change it!“). Mit den Nuller-Jahren begann sich das zu ändern. Zunächst unmerklich.

Schröders Agenda 2010 war das letzte Change it! von Land, Gesellschaft und Wirtschaft. Mit Merkel kam die Plateau-Phase: Das Land war wohlhabend, intakt und inmitten einer demographischen Sonderlage, denn Boomer und X-er waren auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft und Produktivität. Und hatten keine Lust mehr auf Reformen und Neuerungen. Man wollte, ganz schlicht, in Ruhe gelassen werden. Das war der Deal zwischen Merkel und den Postwachstums-Deutschen: Ihr wählt mich – und ich lasse euch dafür in Ruhe. Wer genau hinsah, konnte den Defekt jedoch schon erkennen: Mit gerade einmal ein-, anderthalb Prozent Beschäftigungswachstum wurden –Surprise!, Surprise!– ein-, anderthalb Prozent Wachstum erzielt. Diesen Produktivitäts- und Investitionsstillstand ließen sich die Deutschen gerne als „Wachstum“ erklären. Sie würden sich, wie die weiteren 16 Jahre der alles lähmenden Abstiegskanzlerschaft Merkels zeigten, noch ganz andere Märchen erzählen lassen. Und blind daran glauben.

Mangelwirtschaft und Defizit-Management – die Abstiegserfahrung wird konkret

Aus rein demographischer Sicht war der Abstieg lange erkennbar. Und wurde ebenso ignoriert, wie alle anderen unangenehmen Realfakten auch. Merkels Vorteil war, dass die Plateau-Phase in der Breite keine wesentlich spürbaren Verluste mit sich brachte: Das erwirtschaftete Geld wurde in und außerhalb Deutschlands rausgehauen, als ob es kein Morgen gäbe. Dieses Morgen ist nun aber zum Heute geworden. Mental sind die Deutschen jedoch im behaglichen Gestern stehen geblieben – das Gezeiten-Paradoxon der Deutschen, das sich in den wie betoniert wirkenden Wahl- und Umfrageergebnissen präsentiert.

Ausgebrannt statt Braungebrannt

Und damit komme ich zu meinen ganz persönlichen Erfahrungen. Egal, ob ich denn als (nichtklinischer) Wirtschaftspsychologe in der freien Wirtschaft, als (klinischer) Psychologe oder präklinischer Notfallmediziner am Start bin – es ist überall das gleiche Erlebnis: Saßen mir früher braungebrannte Mitarbeiter gegenüber, die mir agil und fit vom letzten (und nächsten) Urlaub irgendwo in der sonnigen Welt erzählten, treffe ich heute vornehmlich auf ausgebrannte, nicht selten apathisch wirkende Mitarbeiter, die mit dem täglichen Scheitern konfrontiert sind. Dem Scheitern von den Heile-Welt-Erzählungen einer „starken Wirtschaft“ in einem „reichen Land“, das mental noch in den Aufstiegs- und Plateau-Phasen stehen geblieben ist. Führungskräfte, die nur noch hilflos irgendwelche Erfolgsphrasen dreschen. Und Mitarbeiter, die Krankheitsquoten von 25 (!) bis 35 (!) Prozent (5 Prozent gelten übrigens als typische Norm …) gegenübergestellt sind. Ja, in der Tat: Im Schnitt fehlt in sehr vielen Bereichen der Unternehmen und Organisationen durchschnittlich (und durchgängig) rund ein Drittel des Personalbestands. Backups oder Redundanzen gibt es auf dem Papier zwar reichlich, realiter sind sie schlicht nicht mehr vorhanden – der Arbeitsmarkt gibt sie nicht mehr her. Offene Stellen bleiben bisweilen sechs bis neun Monate unbesetzt, nicht selten bleiben sie dauerhaft „vakant“. Die dennoch vorhandene Arbeit wird den verbleibenden rund 70 Prozent übergebraten, bis auch dort die nächsten Langzeitausfälle anfallen. Es ist, so ein bisschen, wie bei dem Spiel „Reise nach Jerusalem“: Jedes Mal, wenn die Musik aussetzt, fällt ein weiterer Mitarbeiter aus. Auch sein Stuhl wird entfernt – es ist ein Spiel, das so lange gut geht, bis es schiefgeht.

Vom „Love it“ oder „Change it“ zum „Leave it“

Die Guten sind lange weg. Leave it. Es ist wirklich selten, dass ich im Nachwuchsbereich noch auf intellektuell flinke, mental starke Persönlichkeiten treffe. Die Älteren, auf die diese Merkmale noch zutreffen, sind, wie beschrieben, ausgebrannt. Durch. Verschlissen. Apathisch. Jedenfalls in der Mehrheit. Die, die aus verschiedenen Gründen schlicht hierbleiben müssen, sitzen in der demographischen Falle, in der ein „Love it!“ oder ein „Change it!“ nicht mehr geht. Sie müssen („Deal with the mess“) damit leben, dass sie immer mehr Aufgaben übernehmen müssen, bei denen sie immer weniger von Nachwuchs unterstützt werden. Denn der, der Nachwuchs, ist durchweg schlecht gebildet und mit phantasmagorischen Work-Life-Balance– und Work-Life-Separation-Ideen obsessiv besetzt. Was in der Folge, sofern der ätzend wirkende Kontakt mit der realen Arbeitswelt konkret wird, zu unfassbaren Fluktuationsquoten führt: Bis zu 70 (!) Prozent der neu eingestellten Millenials und Wokies bleibt kaum länger als ein paar Monate. Was ich, übrigens, auch in meinen eigenen Zertifikatsfortbildungen berücksichtige: U30-Teilnehmer merke ich mir zu Beginn erst gar nicht mehr, sie gehen im Laufe der ein-, anderthalb Jahre bis zum Zertifikat sowieso verloren. Leave it.

Big quit & Quiet quit – die innere Kündigung als Prinzip

Mit einer gewissen Wehmut schaue ich auf die letzten 15 Jahre zurück. 2007 begann ich meine freiberufliche Laufbahn als Seminarveranstalter, Aus- und Weiterbilder, Lehrbeauftragter, Präventions- oder Rehabilitationsberater in Unternehmen: Meine Kunden, meine Teilnehmer sind mit mir älter geworden. Und geblieben. Denn der eigentlich längst fällige Generationswechsel in den Unternehmen und Organisationen fällt weitgehend aus. Der Nachwuchs, der mühevoll und teuer gesucht wurde, gerät beim Gefundenwerden in Panik: Den Kontakt mit der realen Arbeitswelt halten nicht viele Junge durch. Fluktuation ist die Flucht der Jungen, Langzeiterkrankung und Berentung ist die Flucht der Älteren. Ich erlebe, jetzt wieder im Heute und gerade verstärkt in diesem zu Ende gehenden Jahr, Unternehmen und Organisationen, die ihre Aufgaben schlicht nicht mehr erfüllen können. Den daraus entstehenden Druck leiten sie ungebremst auf die immer älteren und weniger werdenden Mitarbeiter ab, die das bislang auch noch alles irgendwie hinbekommen haben. Mein Eindruck ist: Auch diese Phase, die Phase der Kompensation, geht jetzt zu Ende.

Das große Gehen, in diesem Falle die Flucht in die Rente, beginnt bereits in wenigen Monaten. Die Plateau-Phase ist vorbei, auch im demographischen Sinne. Die 55 bis 65-jährigen, die noch bleiben müssen, werden ihre Flucht in Langzeiterkankung weiter fortsetzen. Wir werden, das ist meine persönliche Prognose, mit Krankenquoten von 40 bis 60 Prozent rechnen müssen. Die Flucht in Fluktuation der Jungen wird weiter enorm hoch bleiben, denn die Welt der Arbeit, die sie suchen, gibt es nicht. Und die Welt der Arbeit, die sie vorfinden, passt für sie nicht. Und so werde ich auch im kommenden Jahr staunend dem Verfall beiwohnen. Ihn mitmoderieren. Und in immer fassungslosere Gesichter von Führungskräften und Mitarbeitern schauen, die mich fragen, wie das eigentlich alles sein kann.

Ihr habt das alles so gewählt, liegt mir dann eigentlich auf der Zunge. Das kriegen wir schon hin, sage ich dann. Wohl wissend, dass ich selbst am Untergang dieser Wirtschaft noch eine Weile mitverdienen kann. Meine Form von „Leave it!“. Denn mein „Change it!“, meine Aufforderung, sich den Realfakten zu stellen, hat man die letzten 10 Jahre unentwegt mit „Halt mal den Ball flach, läuft doch!“ beantwortet.

So ist das eben, wenn man ein Spiel spielt, das so lange gut geht, bis es schief geht.

Zum Autor: Alexander Freitag ist Wirtschaftspsychologe und Lehrbeauftragter für Präklinische Notfallmedizin & Psychiatrie. Er ist Mitautor des Buches „Die hysterische Republik“.