Steffen Meltzer

Gibt es weibliche Kriminalität nur in deutschen Märchen? Wie Sie wissen, ist das keineswegs so. Die urchristliche Figur der Mutter Maria als das Muttersymbol der abendländischen Kultur sprach im Prinzip viele Jahr­hunderte dagegen. Maria war so rein, dass sie sogar als Jungfrau ein Kind gebar. Die Frau als Mittelpunkt der Familie, als reine, sich aufopfernde und fürsorgliche Figur, die alle Fäden zusammenhält und den Mann dazu an­hält, nicht seinen animalischen Instinkten zu folgen. Im Gegensatz dazu steht der Mann, dessen Aufgabe es ist, in die Welt zu ziehen, um gegen die Mächte der Finsternis zu kämpfen und dabei ständig sein Leben zu riskieren, um die Existenz seiner Familie sicherzustellen. Als Heimkehrer verkörpert er das harte, unnachgiebige, strenge, ja autoritäre Wesen, das Mord und Totschlag, Alkohol und Vielweiberei nicht abgeneigt zu sein scheint. Dagegen muss sich die Frau zu Hause liebevoll um die Kinder kümmern und verzichtet dabei ständig auf eigene Bedürfnisse.

In den deutschen Märchen und vor allem Sagen kommen Mütter, Mäd­chen und Frauen nicht ganz so gut weg. In den Grimm’schen Geschich­ten spielen Frauen viel mehr oft eine harte, kalte und intrigante Rolle bis hin zur berechnenden Giftmörderin. Bei Hänsel und Gretel war es in der Grimm’schen Erstfassung nicht die böse Stiefmutter, sondern die leibliche Mutter, die den Vater überredet, die gemeinsamen Kinder kaltherzig im dunklen Wald auszusetzen. Diese gerieten gar an eine Hexe, die die Ab­sicht hatte, die Kinderlein in kannibalischer Absicht aufzuessen. Mag sein, dass in die Entstehung des Märchens die jahrhundertelange Hexenverfol­gung hineinspielt und dafür sorgt, dass die »Hagse« (frühmittelalterliche Bezeichnung für ein allein in Wald und Flur hausendes Kräuterweiblein, später Haxe und Häxe genannt) als gefährliche und bösartige Frau dar­gestellt wird. Nachdem die letzte »Hexe« in Deutschland 1751 in Endin­gen am Kaiserstuhl hingerichtet wurde, erfolgte die letzte Anklage wegen »Teufelsbuhlschaft«, der sexuellen Beziehung mit dem Satan, immerhin noch 1775 im Stift Kempten. Die Jahrhunderte der Hexenverfolgung ha­ben auch ihre Spuren in den familialen Strukturen hinterlassen: Waren die Frauen Europas bis dahin weitestgehend gleichgestellt, nahmen sie nun gegenüber dem Mann eine untergeordnete Rolle ein. Neben einer weite­ren Entfremdung der Geschlechter mussten Frauen lernen, sich einer au­toritären und brutalen Obrigkeit zu unterwerfen, um durch Denunzianten nicht angeschwärzt und durch die »hochnotpeinliche Befragung« (mittel­alterliche Bezeichnung für die Folter) zu Tode zu kommen. Es muss aber Ausnahmen gegeben haben, nicht nur in der Oberschicht.

In der Grimm’schen Neufassung um 1840 wurden einige Märchen an­gepasst. Aus der Mutter wurde die Stiefmutter, um den gesellschaftli­chen Frieden zu wahren. Frauen hatten nunmehr die Rollenzuweisung »Kinder, Küche, Kirche« zu erfüllen, das durften moralisch auch keine Märchen in Frage stellen.

Ein anderes Beispiel ist Frau Holle, die die eigentliche Todesgöttin Hel (verwandt mit dem Wort »Hölle«) in der Unterwelt der Germanen ver­körpert. Die fleißige Goldmarie und die faule, intrigante Pechmarie wer­den nach dem Leistungsprinzip entlohnt. Dieses Märchen spiegelt aller­dings auch ein weiteres gesellschaftliches Problem dieser Zeit wider: Die Geburtenkontrolle war verboten, die Einnahme von Kräutern, die zur Verhütung führten, untersagt. In der Folge wurden Frauen zu häufig und zu schnell hintereinander schwanger und starben oft im Kindsbett, woraufhin die Witwer erneut heirateten. Die dann anwesenden Halb­geschwister standen im erbitterten Konkurrenzkampf, in den die leib­liche Mutter mitunter zugunsten ihrer eigenen Kinder eingriff. Es ging schließlich um das Erbe. Bei Schneewittchen ist es ebenfalls eine Frau, die narzisstische Herrscherin, die nicht ertragen kann, dass sie nicht die Schönste ist und allein deshalb zur Giftmörderin wird.

Wie Märchen und Hexenverfolgung zeigen, wurde die Persönlichkeit der Frauen oft ambivalent dargestellt: Sie symbolisieren seit jeher nicht nur das »bessere Geschlecht«, welches durch Reinheit und Gutmütigkeit gekennzeichnet ist, sondern treten auch als narzisstische, hinterhältige Persönlichkeiten in Überlieferungen auf. Wenden wir uns nun der weib­lichen Kriminalität in der Gegenwart zu.

Der Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch „Ratgeber Gefahrenabwehr“