Um unsere Gesellschaft muss es schlecht bestellt sein. Sehr schlecht. Nach Wolfgang Herles‘ Buch „Die neurotische Nation“ attestiert ihr nun Steffen Meltzer mit „Die hysterische Republik“ eine weitere psychopathologische Diagnose. Zu recht?

Insgesamt elf „Diagnostiker“ aus unterschiedlichen Professionen, vom Polizeibeamten und Juristen über Psychologen bis hin zum Literaturwissenschaftler, fühlen der deutschen Psyche auf den Zahn. Hierbei nehmen sie auf etwa 240 Seiten nicht nur pathologische Befunde im Medien- und Wissenschaftsbetrieb sowie im Politik- und Polizistenberuf unverblümt auf. Nein, sie entblößen auch auf verschmitzte Art ihre Folgen: den hiermit verbundenen und sich ausbreitenden alltäglichen Irrsinn.

Meltzer greift hierfür direkt ins Herz dieses Nonsens. Was heute das „Schneechaos“ ist, war früher der „Winter“. Das lässt ihn zu seiner Gesellschaftskritik auf ganzer Linie kommen. Diese ist zwar wenig wissenschaftlich, was auch nicht seine Absicht war, dafür aber präzise zutreffend. So liest man Fetzen von Kritik an Opfer-, Spaß- und Infantilisierungsgesellschaft aus seinen Gedanken heraus.

„Das kleine Geschwisterchen“ des totalitären Staates

Demgegenüber nehmen Martina Christlieb und Oliver Nölken konkret den Nanny-Staat in die Zange. Christlieb, indem sie die Blickwinkel einiger ihrer Patientinnen zur Coronapandemie darlegt. Nölken, indem er aufzeigt, warum der Nanny-Staat „das kleine Geschwisterchen“ des totalitären Staates sei. Seine Erfahrung mit einer staatlich beauftragten Sitzberaterin rundet den Beitrag auf heitere Weise ab.

Wenn es um den „Freund und Helfer“ geht, legen Meltzer, Christian Sitter und Rainer Berendsen den Finger in die gesellschaftliche Wunde. Während Sitter die Folgen des Mangels an Polizeikräften darlegt, erzählt Berendsen von seinen Erfahrungen als Bezirksbeamter im Polizeidienst. Meltzer dagegen weist auf bestehende Führungsprobleme innerhalb der Polizei hin, und die Voreingenommenheit deutscher Medienleute gegenüber dieser. Die Leidtragenden dieser Missstände seien schlussendlich Polizeibeamte. Das alles spickt Meltzer mit spannenden Statistiken und anschaulichen – mal mehr, mal weniger abstrusen – Fallbeispielen aus dem Leben.

Dem kranken Patienten Deutschland nähern sich aus psychologischer Sicht Annette Heinisch, Alexander Freitag und Wolfgang Meins. Heinisch überträgt Gustave Le Bon’s Massenpsychologie auf unsere heutige Zeit, Freitag echauffiert sich über nicht wenige „nützliche Idioten“ im Wissenschaftsbetrieb und in der Medienlandschaft. Und Meins zaubert ein Paradebeispiel des bürokratisch-wissenschaftlich ideologischen Irrsinns aus dem Wissenschaftshut: Die Stellungnahme der Leopoldina zu „massenweise“ traumatisierten Flüchtlingen in Deutschland.

Demgegenüber widmet sich Gunter Weißgerber dem Zusammenhang zwischen Freiheit, Mobilität und Vertrauen: „Je stärker das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber, desto eingeschränkter das Recht auf Mobilität.“ Ein Vergleich zur DDR soll dem Leser diese These verständlicher machen. Da passt es, dass Ulrich Schödlbauer seine Typologie unterschiedlicher Konformisten dem Leser vorstellt.

Wer somit auf unterhaltsame und informative, aber leicht verständliche Weise in die pathologische Psyche Deutschlands eintauchen möchte, dem sei „Die hysterische Republik“ zu empfehlen. Womöglich eignet sich die Lektüre gut während der Osterfeiertage – trotz eines Eierlikörchens zu viel. Denn so verschieden die Perspektiven der einzelnen Autoren sind, so abwechslungsreich sind auch ihre Stile. Nichtsdestotrotz bleibt ihre Diagnose dieselbe: „Deutschland, du Hysterikerin.“

„Die hysterische Republik“ von Steffen Meltzer (Hrsg.), 2021, Potsdam: Ehrenverlag. Hier bestellbar.

Die Buchrezension erschien zuerst auf achgut.com.


Zur Autorin: Deborah Ryszka, geb. 1989, M.Sc. Psychologie und Doktorandin der Philosophie.