Titelbild: envato

Steffen Meltzer

Veröffentlicht in „Deutsche Polizei“, Landesausgabe Sachsen und „Deutsche Polizei, Landesausgabe Brandenburg 

„Es gibt kein Verbrechen, das ich mir unter bestimmten Voraussetzungen nicht selbst zutrauen würde.“ (Goethe)

In diesem Sinn äußerten sich 38 Prozent aller Deutschen bei einer repräsentativen Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen des ZDF (vgl. ZDF- Dokumentation „Ein (fast) perfektes Verbrechen“).

Das Land Niedersachsen hatte sich in vergangenen Jahren entschlossen, eine breit angelegte „Dunkelfeldstudie“ durchzuführen. Das bekannte „Hellfeld“ der in Abständen vorgestellten Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) widerspiegelt nicht die tatsächliche Kriminalitätslage. Deshalb wurde erstmalig in Deutschland eine Befragung von circa 40.000 Personen vorgenommen. Der Rücklauf der Befragungsbögen betrug knapp die Hälfte. Mit anderen Worten: das dortige Landeskriminalamt hat eine lebensnahe Kundenbefragung durchgeführt.

 

Welche Ergebnisse lassen in Bezug zur tatsächlichen Kriminalitätslage aufhorchen?

Es war festzustellen, dass ca. 30 Prozent der dortigen Einwohner im Jahre 2012 Opfer mindestens einer Straftat geworden sind, einige Personen davon gleich mehrfach. 70 Prozent aller Opfer erstatteten keine Strafanzeige. Damit wurden tausende Straftaten der Polizei weder bekannt noch verfolgt. Die Delikte blieben unaufgeklärt, die Täter unerkannt. 

Vermutlich wird in Deutschland die Situation keine bessere sein. Jede nicht verfolgte Straftat ermutigt Täter, in immer kürzeren Abständen, immer intensivere Straftaten zu begehen. Es fehlen hier zeitnahe strafrechtliche Sanktionen. Wenn durch die Staatsanwaltschaft Verfahren wegen „Geringfügigkeit“- oder angeblich „fehlenden Interesses“ eingestellt werden, hat das eben auch eine fatale Signalwirkung. 

Noch einmal zurück zur angeführten Studie in Niedersachsen. Die meisten Befragten gaben an, mindestens einmal im Jahr eine Polizeistreife wahrgenommen zu haben, allerdings war diese so gut wie immer motorisiert unterwegs und fast nie als Fuß- oder Fahrradstreife. Jedoch besteht bei vielen Bürgern der Wunsch nach einem persönlichen Kontakt zur Polizei. Überlastete Funkstreifenwagenbesetzungen, die von Einsatzort zu Einsatzort gehetzt werden, dürften das allerdings verhindern, nicht nur nordwestlich von Stuttgart, Köln, Leipzig  oder  Potsdam aus gesehen.

Niedersächsische Bürger bevorzugen bei der Anzeigenerstattung den direkten Weg zur Polizei und den unmittelbaren Kontakt mit dem die Anzeige aufnehmenden Beamten. Eine Internetwache wurde nur wenig genutzt. Favorisiert werden also auch in Zeiten der Digitalisierung von Verwaltungs- und Vollzugsabläufen direkte menschliche Kontakte und weniger kalte Maschinenabläufe am PC. 

Ja, es scheint ganz simpel: Je mehr persönliche Gespräche zwischen den Bürgern und der Polizei stattfinden, desto mehr Straftaten werden den Beamten bekannt. Viele Bürger sind bei dubiosen Sachverhalten verunsichert und suchen einen persönlichen Rat, gerade dann, wenn es um mögliche Straftaten geht. Mit anderen Worten: Viel Polizei ergibt viele Strafanzeigen, weniger Polizei weniger aufgedeckte Straftaten. Dadurch kann sogar die Kriminalität im Hellfeld „sinken“, nicht jedoch im realen Leben.

 

Die Politik will die Kriminalität senken?

Ganz einfach, dazu braucht man nur fleißig Stellen abzubauen und einzusparen, ob bei der sächsischen Autobahnpolizei, der Prävention bzw. bei den Bürger- bzw. Revierpolizisten, die regelmäßig zweckentfremdet eingesetzt werden. Das Hellfeld der PKS wird dann deutlich geschönter und die  Differenz  zur  realen Kriminalität  immer  dramatischer. 

Immer weniger Kriminalpolizei in den Polizeidienststellen verhindern eine umfassende Ermittlung der Alltagskriminalität.

Ein Zustand, der beispielsweise in Brandenburg schon lange Einzug gehalten hat. Den zuständigen Sachbearbeitern ist  deshalb  selbstverständlich kein Vorwurf zu machen, erst recht nicht, wenn man gesehen hat, was durch die engagierten Kollegen der Kripo für  Massen an Verfahren bewegt werden müssen. Die wahrnehmbare Tendenz – hast du einen guten Anwalt, wird  vielleicht  die  Straftat geahndet, hast du einen schlechten oder gar keinen, hast du eben Pech! Das Verfahren wird eingestellt und der Täter kommt davon.

Das finde ich mehr als bedauerlich. Diese Vorgehensweise untergräbt in der Folge das Vertrauen des Bürgers in den Rechtsstaat. Von den wirtschaftlichen Schäden durch Kriminalität einmal abgesehen, kann es zu traumatischen Belastungsstörungen kommen, die Opfer durch schwere Straftaten, wie Wohnungseinbrüche, Raubüberfälle oder gefährliche Körperverletzungen erleiden. Unbearbeitet können diese ein Leben lang anhalten und die Lebensqualität der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. 

Es gibt Deliktfelder, da spiegelt die offizielle PKS nicht einmal ansatzweise die tatsächliche Kriminalität wieder. Beispielsweise wurden nach der benannten Studie bei Sexualdelikten nur etwa vier Prozent der Polizei bekannt, bei der Internet/- Computerkriminalität waren es lediglich 10,6 Prozent. Das heißt, von 1000 Nutzern wurden 106 User Opfer von kriminellen Attacken. Währenddessen Wohnungseinbrüche und KFZ-Delikte am ehesten der Polizei angezeigt wurden, stellte die Studie bei Körperverletzungen, „allgemeinen“ Diebstählen und Sachbeschädigungen erhebliche Unterschiede zwischen realer Kriminalität und dem Anzeigeverhalten der Bürger fest. Die Auswirkungen auf die Kriminalitätsfurcht von Opfern (auch der nicht angezeigten) sind enorm. Die LKA-Befragung beschrieb ein typisch verstärktes individuelles Schutz- und Meidungsverhalten. 

statistik

(Quelle: Tabelle LKA Niedersachsen, “ Befragung zur Sicherheit und Kriminalität in Niedersachsen,  Bericht zu Kernbefunden der Studie 29.11.2013, Seite 38)

Auch außerhalb Niedersachsens ist natürlich erst einmal jeder Bürger für sich selbst verantwortlich, wenn es darum geht, das Opfersein von Straftaten zu verhüten, zum Beispiel, indem er seine Firma, Wohnung oder sein sonstiges Eigentum entsprechend zusätzlich sichert. Es ist aber auch Aufgabe des Rechtsstaates zu verhindern, dass Geschädigte aus Furcht vor weiterer Kriminalität nur noch eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Es sollte stattdessen immer weniger passieren, dass Bürger Opfer von Aggressoren oder kalten Praktikern werden, die vorher noch nie polizeilich erfasst wurden, jedoch schon mehrfach schwere Delikte begangen haben und dabei ohne Verhaltensahndung in einem Meer der Anonymität verschwinden. 

Hinzufügen möchte ich, dass einige Dunkelfelder auch durch Befragungen nicht erfasst werden können, beispielsweise verborgen gebliebene Tötungsdelikte. So schätzt der renommierte Gerichtsmediziner vom Institut für Rechtsmedizin an der Universität München, Wolfgang Eisenberger, ein, dass deutschlandweit pro Jahr mindestens 1200 Tötungsdelikte unentdeckt bleiben. Als eine Ursache sieht er an, dass vermutlich aus Kostengründen 2012 in nur noch etwa ein Prozent aller Fälle gerichtlich angeordnete Sektionen vorgenommen wurden. So beabsichtigte man beispielsweise das Institut für Rechtsmedizin in Potsdam aus übertriebenem Spareifer aufzulösen. Sektionen sollen dann zukünftig durch Pathologen in Krankenhäusern durchgeführt werden. „Der Vorschlag ist völlig daneben, für die Strafverfolgung wäre das fatal. Pathologen in Kliniken seien auf das Erkennen von Krankheiten, nicht aber auf das Entdecken von Verbrechensspuren spezialisiert“, warnt Brandenburgs oberster Strafverfolger Eduardo Rautenberg. „Wir haben schon jetzt eine sehr hohe Zahl nicht entdeckter unnatürlicher Todesfälle. Die Dunkelziffer würde steigen, Morde würden nicht entdeckt“ (MAZ). Inzwischen vollzog die Politik die Rolle rückwärts, das Institut bleibt bestehen.

Pathologen sind auf das Erkennen von Erkrankungen spezialisiert, jedoch nicht auf das Erkennen von Verbrechenstatbeständen. „Das wäre in etwa so, als wenn zukünftig Tierärzten auch die medizinische Behandlung von Menschen aus Kostengründen gleich mit übertragen würde“. Der Leiter der Rechtsmedizin in Potsdam, Jörg Semmler, geht davon aus, dass in Deutschland etwa jeder zweite unnatürliche Todesfall unentdeckt bleibt und merkt weiterhin kritisch an, dass in keinem anderen hoch industrialisierten Land wie Deutschland so wenig obduziert wird. 

In Sachsen wurden, nach meinen Erkenntnissen, durch Prof. Karlheinz Liebl, Hochschule der Sächsischen Polizei, von 2010 bis 2012 eine Dunkelfeldstudie auf 125 Seiten erstellt und zusammengefasst. Dabei standen nur wenig finanzielle Mittel, aber viele Helfer zur Verfügung. 

Der Beitrag wurde am 10.09.2019 überabeitet.